Die Holstenstraße

Am 31. März 1933 erschien im Holsteinischen Courier die folgende Annonce. Sie spiegelt den Inhalt der Anordnung von Julius Streicher wider, der im März 1933 das „Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“, das die Boykottmaßnahmen gegen jüdische Unternehmen, Rechtsanwälte und Ärzte vom 1. April 1933 koordinierte, leitete. 

 


In Neumünster wurde Werner Grage zum Leiter des örtlichen Komittees ernannt, der stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP-Ortsgruppe Nord war und in der Holstenstraße 22 wohnte. Dort nahm die Judenhetze von Neumünster ihren Anfang. Augenzeugen berichten, dass 20 bis 30 Juden mit Schildern um den Hals durch die Holstenstraße auf den Kuhberg geführt und dabei von SA und Anwohnern gedemütigt worden sind. Schon am 1. April war mit dem Boykott jüdischer Geschäfte begonnen worden: Der Holsteinische Courier berichtete, dass an diesem Tag SA-Posten mit "ihren gelben und weißen Tafeln" vor verschiedenen Läden Aufstellung nahmen1 (Bekleidung Feldmann, Kadepra, Karstadt, Bekleidungsgeschäft Minden,...). Während einige Geschäfte dem ständigen Druck nachgaben und die beiden großen Häuser Karstadt und Hamburger Engros-Lager schon am 1. April schnell versicherten, dass "alle nichtarischen Vorstandsmitglieder aus dem Vorstand ausgeschieden seien", widersetzte sich das Einzelhandelskaufhaus "Kadepra" relativ lange diesen Drangsalierungen. Immer wieder wurden die Schaufenster eingeworfen, ohne dass die Täter (offiziell) zu ermitteln waren, ehe das Kaufhaus 1935 in "arische" Hände überging (Harder & Co., später Haka).

 

Diese Art der Verfolgung blieb jedoch auch in Neumünster nicht die einzige Form. Menschen jüdischer Abstammung wurden ihrer Ämter enthoben bzw. aus dem öffentlichen Dienst entlassen (Stadtsparkasse, Schulen, Stadtverwaltung). Rechtliche Grundlage dafür bot das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933, dem auch politische Gegner der Nazis zum Opfer fielen. Auch sonst fand über Propaganda und Sondergesetze eine ständige Ausgrenzung der Juden statt - es war ihnen z. B. verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen - sodass sich ihre Zahl in Neumünster von Juni 1933 bis Mai 1939 von 47 auf 16 verringerte2.

 

Wie schon aus den Zahlen ersichtlich, verließen zahlreiche jüdische Mitbürger die Stadt und zogen in Großstädte wie z. B. Hamburg, Berlin und Bremerhaven oder emigrierten ins Ausland. Auswanderungsziele waren die Länder Frankreich, Belgien, Holland, England, Amerika und Schottland, Zu diesen Emigranten gehörten Erwin, Herbert und Erika Minden, alles KPD-Angehörige, die im Juni 1933 die Stadt mit Ziel Amsterdam verließen. Am 25.06.35 griff die Gestapo Düsseldorf Erwin Minden nach der Einreise nach Deutschland auf und haftierte ihn im Konzentrationslager Esterwege3.

 

 

Zu einer weiteren verfolgten Gruppe zählten die Sinti und Roma, die in Neumünster u.a. an der Schwale campierten und einige fahrende Lager unterhielten. Laut Polizeibericht (Mai 1940) "... erfolgte die Festnahme und der Abtransport von 42 Zigeunern, die zunächst einem Sammellager in Hamburg zugeführt und von dort aus nach Osten (Warschau) abgeschoben worden sind... im Auftrag des Reichsführers der SS ..."

 

Was man sich unter "Osten" im Mai 1940 vorzustellen hatte, war eindeutig: die Konzentrationslager in Polen wie Auschwitz-Stammlager (Mai 1940 bis Januar 1945) oder Stutthof (Mai 1939 bis Mai 1945) oder das Zigeunerlager Lety in Tschechien.