Haart 38

Zu den lange vergessenen Gruppen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, gehören die Sinti und Roma. Auch in unserer Stadt fand eine Deportation statt.


Im Mai 1940 führte die hiesige Gendarmerie – im damaligen Sprachgebrauch hieß sie Ordnungspolizei – eine Razzia in Neumünster durch mit dem Ziel, alle Sinti und Roma, die es zu der Zeit gab, zusammenzutreiben und zu deportieren. Man brachte ca. 40 Sinti zunächst ins Lokal „Captain Cook“ (das früher „Perle“ hieß) im Haart 38, darunter auch den 11-jährigen Otto Laubinger, Jahrgang 1928. Dort trafen sie mit weiteren Verwandten und anderen bekannten Sinti zusammen. So war eine Tante mit ihrer Familie aus der Flensburger Straße schon da, Ottos Oma mit drei erwachsenen Kindern und auch andere Sinti aus Wittorf. Man brachte sie nach Hamburg in den Fruchtschuppen am Hafen. Über 1000 Menschen aus Lübeck, Kiel, Hamburg und anderen Städten wurden dort von der berüchtigten "Zigeuner-Dienststelle" der Hamburger Polizei zusammengepfercht und 8 Tage lang festgehalten. Die Gefangenen waren hier noch keinen Schlägen ausgesetzt, aber ein Verlassen der Halle war nicht möglich.


Die Deportation führte per Zug über Hannover nach Warschau und schließlich nach Bełżec, das an der südlichen Grenze des Distrikts Lublin in Polen gelegen ist. Bełżec war 1940 noch Arbeitslager, wurde aber nach und nach zum Vernichtungslager ausgebaut, um die „Aktion Reinhardt“ durchzuführen. So lautete der Tarnname für die Ermordung von über zwei Millionen Juden sowie rund 50.000 Roma zwischen Juli 1942 und Oktober 1943.


Nach der Ankunft der Sinti aus Neumünster in Bełżec erfolgte die Selektion, Männer nach links, Frauen nach rechts. Selbst die Kinder mussten Zwangsarbeit im Steinbruch leisten. Dabei war Schikane und Prügel an der Tagesordnung. Insgesamt durchlief die Familie drei Arbeitslager in Polen, nach Bełżec folgte ein ca. dreimonatiger Aufenthalt in der „Mühle“ im Ort, und dann ging es auf Pferdefuhrwerken über 140 km in das Vernichtungslager Krychów bei Sobibor. Der Bruder und ein Cousin wurden an den Ärmeln aufgehängt und gequält. Nach der Befreiung durch die Russen machten sich die Sinti auf eine Monate lange Flucht über Beuthen (das heutige Bytom in Polen) bis nach Berlin und gelangten schließlich erst nach dem Krieg 1946 wieder nach Neumünster. Auf der Flucht drohten neue Gefahren. So starb der Cousin durch eine Mine, weil er ein Stück brennendes Gummi austreten wollte.

 

Zu den Tätern können die Historiker sehr viel genauer berichten als ich, aber so viel sei gesagt: Major der Ordnungspolizei im Polizeibataillon 106 Neumünster im Mai 1940 war Max Kaufmann verheiratet, 3 Kinder, 01.05.1933 Eintritt in die NSDAP. Verantwortlicher in Hamburg war Kurt Krause, der die Deportation vom 20. Mai 1940 mit den Neumünsteraner Sinti und einen Transport nach Auschwitz am 11. März 1943 begleitet. Krause wird nach dem Krieg im Internierungslager Gadeland bis Februar 1946 inhaftiert, kommt nach drei Jahren wieder frei und wird im sogenannten „Entnazifizierungsverfahren“ als Entlasteter eingestuft.

 

Otto Laubinger starb am 07.04.2018. Am 10. Mai 2017 wurde in Hamburg der Gedenkort "denk.mal Hannoverscher Bahnhof" eröffnet, mit dem an über 8000 Juden, Sinti und Roma erinnert wird, die aus Hamburg und Norddeutschland deportiert wurden. Auf den dortigen Namenstafeln ist auch Otto Laubinger genannt.

In den nächsten Jahren wird in Hamburg ein Dokumentationszentrum mit Dauerausstellung entstehen, in dem die Biografien der Opfer ganz wichtig sein werden. In Neumünster wird hoffentlich demnächst mit einer Gedenkstätte ebenfalls an die Opfer der Deportation von 1940 erinnert.

 

 


In einem 45-minütigen Interview habe ich im Jahr 2013 mit Otto, seinem Neffen Tino und seinem Sohn Jonny Laubinger gesprochen, um hauptsächlich zuzuhören, ihnen Raum zu geben, um über Erlebtes zu sprechen, da auch heute noch Angst herrscht, wenn man Sinti und Roma zum „Porajmos“ („das Verschlingen“), zum nationalsozialistischen Völkermord, befragt:

- Der „Zigeuner“-Begriff, wie er von den hier lebenden Sinti empfunden wird


- Ausgrenzung, Verfolgung und Zwangsarbeit der Sinti und Roma in Neumünster in der Zeit des Nationalsozialismus, 1933-1945


- Diskriminierung der Sinti und Roma nach 1945

 

- Gegenwärtige Bedrohung durch Neonazis

 

- Pläne und Gedanken der in Neumünster lebenden Sinti

 

 

 

Hier ein 16-minütiger Beitrag, der 2014 im Freien Radio Neumünster gesendet wurde.


„Zigeuner“ ist eine abwertende Beleidigung

Sinti und Roma sind eine seit Jahrhunderten in Europa lebende Volksgruppe indischer Herkunft. In Deutschland wurden sie besonders vom 19. Jahrhundert an diskriminiert. Seit 1906 galt in Preußen die „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“. Die Nationalsozialisten verfolgten die „Zigeuner“ aus rassistischen Gründen und verboten ihnen – wie der jüdischen Bevölkerung – seit 1935 Ehen mit „Ariern“ (Nürnberger Gesetze). Durch das Reichsbürgergesetz verloren Sinti und Roma die deutsche Staatsbürgerschaft. Wir fragten Familie Laubinger, wie sie zu dem Zigeunerbegriff steht.


„Da kriegt ihr ein Häuschen, mit Tieren und so.“

Im NS-Regime wurden alle Menschen zu „Volks- und Reichsfeinden“ erklärt, die keinen Platz in der nationalsozialistischen Vorstellungswelt von der „deutschen Volksgemeinschaft“ hatten. Ab 1933 wurden auch die Sinti und Roma schikaniert und ausgegrenzt, und man wandte die Nürnberger Rassegesetze, die den Juden galten, jetzt auch auf diese Volksgruppe an. Mit pseudowissenschaftlichen, rassenbiologischen Forschungen stellte man die sog. „Zigeuner“ als kriminelle, faule Rasse dar, die nun systematisch verfolgt wurde. Sie wurden Razzien unterzogen, in Zigeuner-Gemeinschaftslager verbracht und schließlich in den Konzentrationslagern getötet.

1940 wurde von Himmler die Anordnung getroffen, insgesamt 2.500 Sinti und Roma aus den westlichen Teilen Deutschlands in das „Generalgouvernement“ zu deportieren. Am 16. Mai 1940 begannen die Nazis mit der systematischen „Umsiedlung" der „Zigeuner“ aus Deutschland in die NS-Konzentrationslager.

Die „grüne“ Gendarmerie (Anmerkung: Ordnungspolizei) kam 1940 auch in die Boostedter Straße und holte Angehörige der Familie Laubinger ab. „Wo kommen wir denn hin? Nach Polen?“ fragte der Vater. Die ersten Ahnungen setzten ein. Man versicherte ihnen, dass sie es in Polen besser haben würden: „Da kriegt ihr ein Häuschen, mit Tieren und so.“

Jonny Laubinger berichtet über die Versprechungen der Nationalsozialisten und das einsetzende Grauen.


Das Grauen ging los, bevor sie in Polen ankamen

Die Ordnungspolizei (OrPo) brachte die 501 Sinti aus Neumünster zunächst ins Lokal „Captain Cook“ (früher „Perle“) im Haart. Dort trafen sie mit weiteren Verwandten und anderen bekannten Sinti zusammen. So war eine Tante mit ihrer Familie (aus der Flensburger Straße) schon da, auch andere Sinti aus Wittorf. Es ging nach Hamburg in den Fruchtschuppen am Hafen, über 1000 Menschen aus Lübeck, Kiel, Hamburg und anderen Städten kamen dort zusammen.


Herr Laubinger berichtet von einem 8-tägigen Aufenthalt in einer mit Stroh ausgelegten Lagerhalle. Die Gefangenen waren hier noch keinen Schlägen ausgesetzt, aber ein Verlassen der Halle war nicht möglich.


Die Zugreise der Deportation führte über Hannover nach Warschau und schließlich nach Bełżec, das in der Nähe der Stadt Tomaszow an der südlichen Grenze des Distrikts Lublin gelegen ist. Bełżec war 1940 noch Arbeitslager, wurde aber nach und nach zum Vernichtungslager ausgebaut, um die „Aktion Reinhardt“ durchzuführen. Nach der Ankunft erfolgte die Selektion, Männer nach links, Frauen nach rechts. Viele der Sinti fürchteten zu dem Zeitpunkt schon Ofen und Vergasung. Otto Laubinger erinnert sich an ein riesiges Gebäude. Der Kommandant (klein, zwei schiefe Finger, hatte Bluthund) baute sich drohend vor den gerade angekommenen Menschen auf und bellte: „Ihr seid alle meine Gefangenen“. „Wer flüchtet, wird erschossen.“ Der erste Kommandant von Bełżec war Christian Wirth, ein Sadist, den eiserne Härte, bedingungslosen Gehorsam, Glaube an den „Führer“, absolute Herzlosigkeit und Unbarmherzigkeit kennzeichnete.

Familienweise wurde man in Ecken gepfercht. Es gab zunächst kein Essen, Trinken gab es.

Otto Laubinger berichtet über den Anfang einer 5-jährigen KZ-Zeit, den viele seiner Verwandten nicht überlebten. „Nehmen Sie nur mit, was Sie tragen können“ hieß es von den NS-Schergen.



Die im Steinbruch eingesetzten Menschen mussten gebrauchte Ziegelsteine von Putz säubern. Sogar die Kinder mussten im Steinbruch arbeiten. Wenn nur ein kleines bisschen Putz übrig war, gab es Prügel. Die SS-Leute haben alle Gefangenen nur „Franz“ genannt. Da sich oft keiner angesprochen fühlte, wenn man nicht „Franz“ hieß, gab es viele Vergehen, die drastisch geahndet wurden. So wurde der Cousin von Otto Laubinger fast zu Tode geprügelt, weil er zu wenig Putz abgeklopft hatte. Selbst die Kinder bekamen Stockhiebe. „Wir mussten arbeiten wie die Hunde“, so Laubinger. Otto Laubinger wurde durch herumfliegende Splitter am Auge verletzt, wofür er später Versehrtenrente erhielt. Aber damit ist das angetane Leid nicht wieder gut zu machen. Zur verweigerten Wiedergutmachung nach 1945 und zur weiteren Diskriminierung der deutschen Sinti und Roma wird heutzutage oft geschwiegen. Erst spät erhielten die Ausgebürgerten ihre Staatsangehörigkeit zurück. In vielen Ländern Europas sind Sinti und Roma noch immer von Ausgrenzung und Gewalt betroffen.

Aber lassen wir Otto Laubinger erzählen.


Und heute? Was hat sich verändert? Antiziganismus auf dem Vormarsch

Zum jahrelangen Kampf der Sinti und Roma um Entschädigung und Anerkennung gehörte (und gehört immer noch) Angst ...

...und Rassismus im täglichen Leben.


Nie wieder! Mahnung zu Achtung und gegenseitigem Respekt

Ziel dieses Interviews war es, einer bisher weitestgehend außer Acht gelassenen (und doch zu der am meisten von Diskriminierung und Rassismus betroffenen) Minderheit die Möglichkeit zur Ansprache zu geben, den letzten Zeitzeugen des Völkermords an den Sinti und Roma Gehör zu schenken, die Erinnerung an die Opfer, an Versagen, Mord und Hass, wach zu halten. Die Täter konnten nach dem Krieg auf Milde hoffen, ja, sie haben sogar Entschädigungszahlungen für ihre Haft in Internierungslagern erhalten. Zu den Menschen, die an diesen Verfolgungen teilnahmen, gehörte auch Kurt Krause. Ab Oktober 1938 war er in der „Zigeunerdienststelle“ der Hamburger Kripo tätig und führt vor der Deportation ins „Generalgouvernement“ vom 20. Mai 1940 eine Reihe von Verhaftungen durch und begleitet sowohl diesen Transport als auch den nach Auschwitz am 11. März 1943. „Zigeuner-Krause“ wurde 1945 festgenommen und u.a. auch in Neumünster-Gadeland interniert. Schon 1946 tritt Polizei-Oberinspektor Krause wieder seinen Dienst an, aber nach einer Anzeige durch Sinti und Roma wird er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. 1949 kommt Krause wieder auf freien Fuß und wird im „Entnazifizierungsverfahren“ in Kategorie V als Entlasteter eingestuft. Er stirbt unbehelligt 1954.

Wir haben an diesem Freitag im Jahr 2013 unfassbare Schicksale gehört und haben uns dabei besser kennengelernt.

Überlassen wir das Schlusswort nun dem 1960 geborenen Sohn Otto Laubingers, der uns eine eindringliche Mahnung hinterlässt.